17

Mein Gott, Michael - hast du das schon gesehen? Da liegt ein Kuhfladen!«

»Fass dich - da drüben liegt noch einer.«

»Meinst du, die Kühe sind ... sind hier in der Nähe?«, fragte Gillian mit zittriger Stimme.

»Ich sehe keine, aber selbst wenn, würden sie dir nichts tun. Sie wären froh, wenn du ihnen nichts tust.«

»Aber sie können TB übertragen. Ich hatte gerade erst ein Geschwür im Mund - mein Immunsystem ist bestimmt geschwächt.«

Julia verdrehte die Augen.

Michael und seine Frau kämpften mit einem riesigen, rot gestreiften Zelt, das wie ein Leuchtturm aus dem Meer der kleinen, grünen emporragte, die den Hang übersäten. Zwei Festivalbesucher hatten es bereits für ein Imbisszelt gehalten und bei Gillian Burger bestellen wollen. Ein anderer hielt es wegen des nassen Flecks auf der Rückseite für eine öffentliche Toilette.

»Es wird doch hoffentlich nicht regnen.« Gillian zupfte besorgt an ihrer weißen Hose. Sie hatte sich bereits einen Grasfleck und zwei Ameisenbisse eingefangen.

»Ich glaube nicht«, sagte Julia bedauernd. Ein ordentliches Gewitter hätte die ganze Sippschaft vielleicht in die Flucht geschlagen. Allerdings hatten sie für alle Fälle Schirme und Regenkleidung dabei. Sie hatten auch sonst an alles gedacht, einschließlich eines Grills, eines umfassend bestückten Medizinkästchens und zweier Klappsessel - und die dritte Reisetasche war noch zu!

Susan kam aus dem Zelt. »Ich muss auf die Toilette.«

»Das geht nicht!«, protestierte Gillian.

»Was?«

»Es ist nur ...« Ihr Blick wanderte den Hang hinunter, an dessen Fuß aufgereiht weiße Toilettenhäuschen standen, vor denen Schlangen von jungen Leuten warteten. »Sie sind bestimmt nicht sauber.«

»Das ist mir egal. Meine Blase platzt gleich.«

»Du könntest verloren gehen!« Gillian überflog nervös die Menge. »Das müssen an die dreißigtausend Menschen sein - stimmt‘s, Julia?«

»Eher fünfzig«, antwortete sie ungerührt.

»Fünfzig!«

»Na und? Ich finde schon wieder her.« Damit machte Susan sich auf den Weg.

»Fass nichts an!«, rief Gillian ihr nach.

Julia unterdrückte einen Seufzer und schaute hügelabwärts, wo Martine, Joey und die anderen emsig MOX-Zelte aufstellten und Transparente entrollten. Das Grüppchen vermittelte den Eindruck von Eintracht und Zielstrebigkeit. Oh, es war nicht fair, dass Julia hier oben bei den Laien festsaß, weit ab von jeder Action!

»Ich hoffe, es wird nicht zu laut für dich, Julia.« Gillian nickte zu der riesigen Bühne hin. »Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis die erste Band auftritt.«

»Gruppe«, korrigierte Julia.

Michael zog den Gummibund seiner Bermudashorts über den Bauch hoch und rückte seine Red-Sox-Baseballkappe zurecht. In dem Meer ausgebleichter Denims fiel er auf wie ein bunter Hund.

»Das Wochenende wird bestimmt großartig!«, sagte er zu Julia.

»Ihr hättet wirklich nicht mitkommen müssen«, erwiderte sie. »Grace ist hier. Sie hätte sich schon um mich gekümmert.«

»Ach ja? Ich habe sie eben oben auf dem Pfosten da drüben gesehen«, spöttelte Gillian.

»Wahrscheinlich nur eine ... vorübergehende Verwirrtheit«, meinte Michael. Er war kein Fan von Grace, aber offenbar bestrebt, neuerliche Spannungen zwischen Julia und Gillian zu verhindern. Gillian, das musste man ihr zugute halten, hatte die leidige Telefonangelegenheit nie mehr erwähnt. Allerdings hatte sie einen verkniffenen Zug um den Mund, als wäre er verdrahtet - was sie als Maßnahme zum Abnehmen tatsächlich einmal erwogen hatte. Doch das war vor der Entdeckung ihrer Allergien gewesen, die nun jede Diät überflüssig machten.

»Du musst nicht denken, dass wir Grace nicht trauen, Mammy. Es ist nur...« Er ließ den Blick über die Zuschauer, die Demonstranten und die Kuhfladen gleiten und log dann: »Wir wollten einfach mit. Stimmt‘s nicht, Gillian? Wir dachten, wir waren noch nie bei einem Open-Air-Konzert - lass uns mal gefährlich leben!«

»Wir waren doch damals bei dem RTE-Konzert im Park«, erinnerte Gillian ihn.

»Du hast Recht. Und bei UB 40.«

»O ja - die waren toll!« Gillian klatschte begeistert in die Hände. »›Red Red Wine!«‹ Ihr Gesicht bewölkte sich. »Weißt du noch? Wir tranken damals Alkohol, und ich bekam lauter rote Quaddeln!«

No MOX! No MOX! No MOX!, scholl ein Sprechgesang von unten herauf.

Gillians richtete ihren Blick pikiert auf die Unruhestifter. »Glaubst du, das geht jetzt den ganzen Nachmittag so?«

»Ich hoffe es«, antwortete Julia gelassen. »Darum sind wir schließlich hier.«

»Natürlich«, mischte Michael sich besänftigend ein. Er warf Gillian einen Lass-sie-doch-Blick zu.

Julia schaute auf die Menge hinunter. Bald würden Sicherheitsleute auftauchen und Ärger machen. Aber es waren keine Fernsehkameras zu sehen. Die Demonstration könnte nicht viel bewirken, wenn nur die Musikpresse darüber berichtete. Warum unternahm niemand etwas, um ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu erregen? Julia war überrascht, wie sehr ihr die Sache am Herzen lag. Vielleicht hatte etwas von Martines Engagement auf sie abgefärbt.

»Möchte jemand ein Glas Chardonnay?«, trällerte Gillian.

»Du bist hier!«, strahlte Adam. »Ich hatte es nicht zu hoffen gewagt - aber du bist gekommen.«

»Ja, Adam - weil ich mit dir reden muss. Es hat sich etwas ergeben ...«

»Du bist hier!«, wiederholte er noch immer staunend. »Ja - ich denke, das ist jetzt klar. Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«

Vorzugsweise außerhalb der Hörweite ihres Mannes.

»Adam?«

Er starrte sie an. »Entschuldige. Ich habe dich nur so vermisst.«

»Wir haben uns doch gestern noch gesehen.« Sie versuchte es mit einem kleinen Lachen, doch er ging nicht darauf ein. Seine blauen Augen glänzten. Vielleicht hatte er zu wenig geschlafen.

»Ich weiß«, antwortete er heiser, »aber es ist viel passiert in den letzten vierundzwanzig Stunden.« Er beugte sich zu ihr vor. »Ich habe einen Plan.«

»Adam, ich will nichts mehr von dieser Hütte am Strand hören ...«

»Ich sprach von der Kampagne.«

»Oh! Ich bin sicher, dass Martine sich dafür interessieren wird. Sie findet, dass du es dir zu leicht machst.«

»Pah!«, spuckte er. »Das sind doch alles blutige Amateure. Demonstrieren nach Vorschrift! Spießige, ängstliche Bürokraten! Da steht keine Leidenschaft dahinter! Du und ich - wir wissen, was Leidenschaft ist, stimmt‘s, Grace?«

»Ah ... ja! Und ob«, versuchte sie ihn zu lockern. Es klappte nicht.

»Und Julia«, setzte er ernst hinzu. »Die hat auch Leidenschaft in sich.«

In seinen Augen loderte ein regelrechtes Feuer. Im Zusammenspiel mit seinen Dreadlocks und den Bartstoppeln erinnerte er vage an den jungen Jesus Christus. »Ich habe keine Zeit mehr«, erklärte er. »Mein Plan - du verstehst...«

»Eine Minute noch«, bat sie. »Ich muss dir was sagen, Adam.«

»Ich weiß es schon.«

»Du weißt es schon? Wie denn das?«

»Ganz einfach: Du bist hier.«

Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er damit sagen wollte.

»Nein, nein, nein!«, widersprach sie heftig. »Ich meine natürlich bin ich hier... oh Adam, ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll...«

»Spuck‘s aus, Grace - Joey wartet auf mich.«

»Okay. Also ...«

Über seine Schulter hinweg sah sie Ewan aufstehen und nach ihr Ausschau halten. Sie duckte sich. »Was tust du da?«, fragte Adam irritiert. »Nichts.« Durch eine Lücke in der Menge erkannte sie, dass Ewan sich umdrehte und in die andere Richtung schaute.

»Ich hab ihn!« Sie richtete sich auf und hielt einen staubigen Schuh hoch. Offenbar hatte die Trägerin es nicht bemerkt, als sie ihn verlor.

Adam schaute sie mit feurigen Augen an. »Ich weiß, dass du genau so empfindest wie ich, Grace. Du wolltest es bloß nicht wahrhaben - und das ist okay. Wichtig ist nur, dass du es dir endlich eingestanden hast. Wichtig ist nur, dass wir zusammenbleiben werden.«

Sie drückte den fremden Schuh an ihre Brust wie einen Schild und hielt Adams Blick fest. »Adam. Es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen.«

Er musste ahnen, was ihn erwartete, denn er sprach plötzlich sehr schnell. »Dann sag es nicht! Zerrede es nicht! Lass nur dein Gefühl sprechen, Grace. Ich habe es getan, und ich weiß, dass wir füreinander bestimmt sind.« Es klang, als hätte er den Text irgendwo entliehen. Vielleicht aus einem Buch. Auf jeden Fall waren es nicht seine eigenen Worte, denn so drückte er sich nicht aus, und plötzlich fragte sie sich, ob er sich das Gefühl auch irgendwo geliehen hatte. Denn das Ganze erschien ihr ... nein, nicht unehrlich, sondern unwirklich. Es war, als sehe er sie beide als die romantischen Hauptpersonen in einem Kitschroman und dass sie ihren Mann und ihre Kinder auf einem Rockfestival ihm zuliebe in die Wüste schickte, als logische Schlussfolgerung aus ihrer verzehrenden Leidenschaft für ihn. Jetzt müsste nur sein T-Shirt an einer Schulter zerrissen sein und den Blick auf seine sonnengebräunte Haut freigeben, und sie müsste den streng riechenden Schuh in hohem Bogen wegschleudern und sich in seine Arme werfen.

Plötzlich erkannte sie, wie ähnlich sie einander waren, sie und Adam: Für sie beide hatte sich das reale Leben als Enttäuschung erwiesen.

»Ich gehe nicht mit dir nach Tasmanien, Adam«, fasste sie sich endlich ein Herz. »Und ich werde auch nicht in einem Cottage irgendwo an der irischen Küste darauf warten, dass du mich besuchst, wenn du die Zeit dafür erübrigen kannst.« Er begriff offensichtlich, wie unvernünftig dieses Ansinnen von ihm gewesen war, denn er sagte nichts dazu. »Dieser Sommer mit dir war ... vollkommen. Zauberhaft. Ich werde ihn nie vergessen.«

»Du könntest noch viele solche Sommer erleben«, erwiderte er, doch es klang lahm.

»Ach, Adam! Versteh doch, dass es zu Ende sein muss! Ich habe zwei Kinder, und du hast ein politisches Anliegen. Diese beiden Faktoren lassen sich nicht unter einen Hut bringen. Bitte belassen wir es doch dabei - hier und jetzt. Verderben wir nicht am Ende, was wir hatten.« Vielleicht hätte es geklappt. Vielleicht hätten sie sich ein letztes Mal umarmt, ein paar Tränen vergossen und sich dann mit ihren Erinnerungen in der Menge verloren wenn nicht, ja, wenn nicht Martine Adam entdeckt und über die Köpfe der Leute hinweg gebellt hätte: »Du faule Sau!«

Adam wirbelte kriegerisch herum, und Grace überlegte fieberhaft, wie sie diese Krise abwenden könnte.

»Sie meint nicht dich«, log sie. Ewan und die Jungs schauten zur Bühne hinunter, sah sie. Gottlob bekamen sie nicht mit, was sich hier abspielte. »Nein, sie schreit mich an. Und ich bin tatsächlich manchmal faul, das gebe ich zu ...«

Doch Adam hatte Martine bereits den Mittelfinger gezeigt, was ihre Wut noch vergrößerte.

»Leck mich!«, schrie sie und kam mit großen Schritten den Hang herunter.

Und dann, oh, Entsetzen, wurde Amanda aufmerksam und drehte sich zu ihnen um.

»Grace!« Sie winkte.

Grace winkte notgedrungen zurück.

Es passierte, was passieren musste: Amanda sah Adam.

»Adam!«, schrie sie.

Der Name »Adam« schien Ewan zu alarmieren, denn er schaute auf einmal herüber und rief: »Grace?«

Su tat, als höre sie es nicht, und außerdem war Martine inzwischen angekommen und stach Adam ihren Zeigefinger in die Brust.

»Beweg deinen Arsch da hoch!«, kommandierte sie und deutete hügelaufwärts. »Auf der Stelle!«

»Halt die Klappe, Martine.« Sein Blick war auf Amanda geheftet, die mit fröhlich tanzendem Pferdeschwanz auf ihn zuhüpfte wie Laura im Vorspann der Folgen von Die kleine Farm.

»Adam! O Adam!«, jauchzte sie.

Er starrte sie an, als sehe er einen Geist. »Was zum Teufel macht die denn hier?«, stammelte er. Grace sah eine Möglichkeit, der Geschichte eine positive Wendung zu geben. »Sie ist den ganzen Weg aus Tasmanien gekommen, um mit dir zu reden«, erklärte sie ihm. »Stell dir das vor!«

Aber Adam war nicht beeindruckt. »Dann ist sie blöd! Ich hab ihr doch gesagt, dass es aus ist.«

»Hör dir wenigstens an, was sie dir zu sagen hat«, drängte Grace ihn. Ewan verfolgte die Szene mit Argusaugen. Es hatte keinen Sinn, noch länger vorzugeben, ihn nicht zu sehen, und so winkte sie ihm zu.

Die ignorierte Martine wurde zusehends wütender. »Ich gebe dir noch eine letzte Chance, bei unserer Kampagne mitzumachen, Adam!«

»Wer war das?«, fragte er Grace.

»Wer?«

»Der Mann.«

»Welcher Mann?«

»Der Mann, dem du zugewinkt hast.«

»Oh! Ich habe keine Ahnung.«

»Ich zähle bis drei!«, warnte Martine.

»Du kannst von mir aus auch bis hundert zählen.« Adam starrte zu Ewan hinauf. »Und wer sind die Jungs, Grace?«

»Welche Jungs?«

»Die Jungs bei dem Mann. Die Jungs, die dir zuwinken.«

»Ich glaube nicht, dass sie mir zuwinken ... Schau ... da kommt Amanda!«

Das Mädchen hatte außer Atem und hochrot im Gesicht den Fuß des Hügels erreicht, doch als sie Adams abweisende Miene sah, blieb sie stehen. Ihr flehender Blick schnitt Grace ins Herz.

»Drei!«, verkündete Martine. »Okay. Das war‘s. Du hattest deine Chance.«

»Und jetzt?«, fragte Adam.

»Und jetzt schmeiße ich dich offiziell aus der Gruppe.«

»Ohhhh, da weine ich aber.«

»Und du kannst Joey ausrichten, dass für ihn dasselbe gilt. Wir können gut auf eure ›Hilfe‹ verzichten.«

»Ja, ja, Martine, ich sehe schon, wie ihr den Festplatz in seinen Grundfesten erschüttert«, spottete er. Verachtungsvoll schaute er zu dem kleinen Häuflein Aktivisten hinüber.

»Wir tun mehr als du.«

»Darauf würde ich an deiner Stelle nicht wetten.« Sie bedachte ihn mit einem letzten giftigen Blick und stampfte dann zu ihren Leuten zurück, wobei sie fast die arme Amanda über den Haufen gerannt hätte. »Ihr beide solltet euch unbedingt unterhalten«, sagte Grace gewollt locker.

Doch er schaute nicht einmal in Amandas Richtung. Seine Augen ruhten auf Grace, und ihr Ausdruck war nicht ausgesprochen liebevoll.

»Du hättest mir gleich sagen sollen, dass du deine ganze Familie mitgebracht hast.«

»Was?«

»Ach, hör auf, Grace! Der Mann und die beiden Kids gehören zu dir. Es hätte uns viel Zeit und mir viele leere Worte erspart, wenn du mit offenen Karten gespielt hättest.«

»Es waren keine leeren Worte. Sie sind einfach gekommen, Adam. Gestern Abend. Um mich zu überraschen.«

»Na, da kannst du ja froh sein, dass ich nicht da war - sonst hätte dein Mann uns vielleicht in Aktion erwischt. Das wäre dann eine Überraschung für ihn gewesen!« Ewan kam den Hang herunter, und Grace wurde flau im Magen.

»Ich hätte mich genauso entschieden, wenn sie nicht gekommen wären, Adam. Es macht keinen Unterschied, dass sie hier sind.«

»Vielleicht gibt dir das ja einen Kick, dass ich und er heute hier sind und du zwischen uns pendelst.« Seine Augen glänzten wieder, und er spielte nervös mit seinen Fingern.

Sie fragte sich, was das wohl für ein Plan sein mochte, den er und Joey da ausbaldowert hatten. »Sei nicht albern.«

»Vielleicht sollte ihm jemand erklären, dass seine Frau ein kleines, schlampiges Verhältnis hatte, während er in Amerika war.«

Ewan hatte sie fast erreicht. Sein Blick war angespannt und wachsam.

»Vielleicht sollte jemand es Amanda erklären - aber das wäre eine billige Trotzreaktion.«

»Du hast eindeutig die schlechteren Karten, Grace«, gab er zurück. »Ich habe viel weniger zu verlieren als du.«

»Es geht nicht ums Verlieren. Es geht darum, Menschen unnötig wehzutun.«

Ewan musste das gleiche ungute Gefühl haben wie Amanda, denn er blieb neben ihr stehen, und die beiden verfolgten das Drama, dessen Drehbuch sie nicht kannten und dessen Dialog sie aus der Entfernung nicht verstehen konnten.

»Mir ist bereits unnötig wehgetan worden«, konstatierte Adam. »Du hast mich benutzt, Grace. Warum sollte ich dich ungeschoren davonkommen lassen?«

»Bitte, mach keine Szene«, flehte Grace leise. »Nicht hier. Nicht jetzt.«

Adam wandte sich Amanda und Ewan zu und lächelte sie merkwürdig an.

»Wir reden später«, sagte er mit erhobener Stimme zu ihnen. Es klang wie eine Warnung. Dann drehte er sich um und tauchte mit schnellen Schritten in der Menge unter.

Come on, Libby, give it up!
Stop teasing, Libby, get it on
Come on, Libby, give it up!

Let‘s get it on tili the break of DAWN!

(Komm schon, Libby, lass es sein! Hör auf rumzuzicken, Libby, mach mit, komm schon, Libby, lass es sein. Lass uns mitmachen, bis der Tag anbricht.)

Ohrenbetäubend rollte der Lärm wie eine Welle über die Köpfe der Fünfzigtausend hinweg.

Gillian schwankte leicht, als hätte sie jemand gestoßen. Sie sagte etwas, doch niemand konnte es hören. Michael klammerte sich an die gepolsterten Armlehnen seines Klappsessels, als säße er in einem von Turbulenzen geschüttelten Flugzeug. Als der Leadsänger Libby zu etwas animierte, das wie Gruppensex klang - vielleicht aber auch Brutalsex, es war nicht eindeutig zu definieren -, dachte Julia, Gillian und Michael würden ihre Siebensachen packen und flüchten. Sie für ihren Teil hätte es gerne getan, aber das würde sie niemals zugeben.

Doch sie bewiesen Durchhaltevermögen, und irgendwann war der Song zu Ende.

»Nicht schlecht!«, rief Michael tapfer, als die letzten Misstöne verklangen. »Wer wohl als Nächstes auftritt?« Gillian zog ihr Konzertprogramm zurate. »Mutilation«, berichtete sie mit schwacher Stimme. »Sie werden jeden Moment auf der zweiten Bühne erscheinen«, informierte Julia sie fröhlich. »Es gibt eine zweite Bühne?«, staunte Michael. »Auf die Weise kann man herumwandern, je nachdem, welche Gruppe man hören will«, erklärte sie. »Der heißeste Tipp in diesem Jahr ist offenbar Plutonium Miss.« Drüben am Hang begannen die Demonstranten wieder mit ihrem Sprechgesang, den sie jeweils in den Pausen intonierten.

No MOX! No MOX! No MOX!

»Wo ist Susan?«, fragte Gillian plötzlich.

»Auf der Toilette.«

»Das war vor einer halben Stunde, Michael!« Die Stimmung wurde panisch.

»Es sind fünfzigtausend Menschen hier.« Michael schaute sich verzagt um.

»Am Eingang ist ein Meeting Point«, bot Julia als Versuch an.

Aber Gillian schaute zu den Demonstranten hinunter. »Ich wette, sie ist bei denen. Dabei hatte ich ihr streng verboten, heute zu diesen übel riechenden Leuten zu gehen.« Unglücklicherweise war in diesem Moment der Sprechgesang unterbrochen worden, und einige der »übel riechenden Leute« schauten kriegerisch zu ihr herauf. »Geben Sie meine Tochter heraus!«, rief Gillian und machte beherzt einen Schritt nach vorne. »Sofort!«

»Wen?«, fragte Martine.

»Susan!« Keine Reaktion. »Dreizehn Jahre alt, rosa Top, Denimjacke ...«

»Ach die! Haben wir nicht gesehen«, gab Martine zurück. Gillian wurde energischer. »Ich habe Sie gestern beobachtet, wissen Sie! Sie haben sie regelrecht verführt, mit Ihrem Perlenzeugs und so. Sie und Ihr Haufen sind schlimmer als diese abartigen Sekten.«

Jetzt drehte sich die gesamte Aktivisten-Schar zu ihr um. Erschrecken malte sich auf den Gesichtern.

»Susan!« Das war Michaels Stimme - und es schwang Entsetzen darin mit. Er stand vor ihrem Zelt und starrte hinein. Susans rosa Top war hochgeschoben, und Gavin lag halb auf ihr und »tat unaussprechliche Dinge«, wie Gillian später jedem berichten würde, der bereit war, es sich anzuhören.

»Perverse Dinge. Aber was kann man von dem Sohn einer Frau wie dieser Charlie anderes erwarten?«

»Tut mir Leid!«, rief Julia zu Martine hinunter. »Das war ein Irrtum.«

»O ja - entschuldigen Sie!«, stimmte Gillian ein. Ihr nomalerweise aschfahles Gesicht war feuerrot.

Inzwischen hatte Michael Gavin aus dem Zelt gezerrt und schüttelte ihn wie ein Terrier eine Ratte. »Du kleiner Scheißkerl! Das ist meine Tochter, an der du da rumgelutscht hast!«

Susan ordnete gelassen ihre Kleidung. »Beruhige dich, Daddy.«

»Und was dich angeht, kleines Fräulein ...«

Sie baute sich vor ihm auf. »Was? Willst du mir Hausarrest geben? Das Taschengeld streichen? Mir den Roller wegnehmen, den du mir nie gekauft hast?«

Einige der Atomkraftgegner stimmten wieder ihren Sprechgesang an, doch der Großteil war von dem Drama am Hang gefesselt - und der Protestchor verstummte zur Gänze, als Charlie mit drei Fischmenüs und einer Schachtel Nudeln angestürmt kam. Nick folgte ihr mit drei Dosen Coke.

»Was zum Teufel machen Sie mit meinem Sohn?«, fuhr sie Michael an.

»Lass doch, Mum«, sagte Gavin verlegen.

»Ihr kleiner Liebling war drauf und dran, meine Tochter zu bumsen«, informierte Michael sie. Neil und Jamie, Graces Söhne, spitzten die Ohren.

»Michael!«, hauchte Gillian verstört.

Charlie war empört. »Wenn sie sich nicht so nuttig anziehen würde ...«

Gillian fand ihre Stimme wieder. »Das sagt ja die Richtige!«, fauchte sie.

»Lassen Sie ihn sofort los!«, forderte Charlie von Michael.

»Ich komme schon allein zurecht, Mum«, protestierte Gavin.

»Mein armer Schatz«, sagte sie liebevoll. Dann rammte sie Nick den Ellbogen in die Rippen. »Tu doch was, um Himmels willen!«

»Ah ...«, begann Nick widerstrebend.

»Du bist total nutzlos, weißt du das?«, beschimpfte sie ihn. »Warum muss ich immer alles allein machen?«

Jetzt reichte es Nick. »Weil ich nur der verdammte aufgehende Stern am Musikhimmel bin! Ich muss gut aussehen und die Freier bei Laune halten, stimmt‘s? Du hast keine Ahnung, wie ich mich manchmal fühle!« Er drehte sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen. Einfach so!

Mit vor Verlegenheit glühenden Wangen entriss Charlie Michael ihren Sohn. »Komm, Baby. Wir hören uns das Konzert von einer anderen Stelle aus an.« Damit stolzierte sie, Gavin fest in der Armbeuge, hoch erhobenen Hauptes davon.

»Was hast du vor?«, fragte Michael Susan, die gerade ihre Jeansjacke anzog. »Willst du dir jetzt woanders Sex suchen?«

Einige der umstehenden männlichen Wesen machten hoffnungsvolle Gesichter.

»Michael!« Gillians Stimme war wieder zu einem Hauch geworden.

»Ich gehe, weil ich euch beide nicht mehr aushalte!«, verkündete Susan. »Kein Wunder, dass Granny nicht bei uns wohnen will!«

Wie eben erst Charlie stolzierte auch sie hoch erhobenen Hauptes davon. Bestürzung ließ die Zurückbleibenden verstummen.

Schließlich brach Julia das Schweigen. »Das ist nicht der Grund dafür, dass ich nicht bei euch wohnen will«, dementierte sie.

»Was ist nicht der Grund?«, erkundigte sich Michael.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Der Grund, den Susan meinte.«

»Oh. Ja. Den kennen wir, nicht wahr, Gillian?«

»Ja, ja«, antwortete sie, war jedoch offenbar nicht klüger als der Rest.

Michael räusperte sich und tönte: »Na, dann werfen wir doch mal den Grill an!«

Julia unterdrückte einen Seufzer. Sie begriffen es einfach nicht. Es war anstrengend.

Gillian nahm sich den Picknickkorb vor. »Wir haben Riesenbratwürste dabei und alles. Meinst du, deine ... deine Freunde möchten mitessen?« Sie nickte zu dem Aktivistenhäuflein hinunter.

»Ich denke, wir sollten sie lieber in Ruhe lassen«, antwortete Julia. Martine hatte es gerade geschafft, ihre Leute wieder in Gang zu bringen, und die No-MOX-Rufe wurden allmählich nachdrücklicher.

»Ich möchte etwas gutmachen bei ihnen«, insistierte Gillian. »Weil ich sie doch zu Unrecht beschuldigt habe.«

»Ich bin sicher, dass sie das schon vergessen haben ... Gillian ... bitte ...«

Aber ihre Schwiegertochter war bereits auf dem Weg. Fröhlich übertönte sie den No-MOX-Sprechgesang mit der Frage: »Möchte einer da unten Spareribs oder einen Burger? Heute früh frisch gemacht!«

Fünfzig Umweltkämpfer unterbrachen ihren Singsang zum zweiten Mal, ließen die Transparente und Fähnchen sinken und wandten sich ihr mit ungläubigen Gesichtern zu. Nun, Julia hatte versucht, sie zu warnen ...

»Sie haben einen Grill mitgebracht?«, fragte Martine nach langem Schweigen.

»Nur einen zum Wegwerfen.«

»Wir sind mitten bei einer politischen Demonstration! Wer sollte uns noch für voll nehmen, wenn wir hier Burger mampften?« Ihr Ton war so messerscharf, dass Gillian zurückwich. »Sie sind wirklich eine dumme Person! Hauen Sie ab!«

»Hauen Sie ab!«, echote jemand.

Die anderen übernahmen es als Mantra. »Hauen Sie ab, hauen Sie ab - hauen Sie ab!«

Gillian machte wortlos kehrt. An ihrem Lagerplatz angekommen, warf sie die Riesenbratwürste und die Burger in die Kühlbox. In diesem Moment tat sie Julia aufrichtig Leid. »Der Protest ist ihnen eben wichtig«, sagte sie freundlich zu ihr. »Sie nehmen ihn sehr ernst.«

Gillian sah sie an. »Und ich bin eine Witzfigur für sie. Für alle.«

Julia war bestürzt. »Gillian ...«

»Und ganz besonders für dich, Julia. Das waren wir beide schon immer für dich, nicht wahr? Michael und ich mit unseren langweiligen Jobs und unseren kleinen Wehwehchen und unserer bockigen Tochter und unseren Versuchen, dich zu bewegen, bei uns zu wohnen. Oh, bitte protestiere jetzt nicht - du bist nicht schwer zu durchschauen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass du dir gar keine Mühe gibst, deine Gefühle zu verbergen. Weil das nicht so viel Spaß machen würde, stimmt‘s?« Sie begann, mit ruckartigen Bewegungen weitere Dinge in die Kühlbox zu pfeffern.

»Gillian ...«, begann Michael.

Seine Frau deutete auf die Demonstranten. »Geh doch zu deinen Weltrettern, Julia! Die magst du ja so.« Sie schleuderte eine Tube Sunblocker in die Kühlbox und dann die Holzkohle für den Grill und ein paar von den Hochglanzmagazinen, die sie als Zeitvertreib für sich mitgebracht hatte.

Julia war tief getroffen. »Sag doch was«, bat sie Michael. »Bring sie zum Schweigen.«

»Beruhige dich, Gillian«, versuchte Michael seine Frau zur Räson zu bringen.

Sie fuhr zu ihm herum. Auf ihren Wangen leuchteten zwei runde, hektische Flecken. »Tu‘s nicht, Michael. Tu‘s nicht. Ich schwöre dir, wenn du noch einmal ihre Partei ergreifst ...« Sie schmiss ihre Handtasche in die Kühlbox, klappte den Deckel zu und packte sie am Griff.

Ohne Julia noch eines Blickes zu würdigen, sagte sie zu Michael: »Ich werde Susan suchen und dann ein Taxi oder so was und nach Hause fahren. Wenn du noch einen Rest Vernunft besitzt, kommst du mit. Denn zuerst hatte sie JJ - den heiligen JJ, der niemals einen Fehler machte und jetzt hat sie diese alberne, politische Marotte, und wenn das vorbei ist, wird sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes konzentrieren. Aber das wirst nicht du sein, Michael. Du warst es nie, und du wirst es nie sein, also hör endlich auf, dich darum zu bemühen! Hör... einfach auf!«

Sie drehte sich so schwungvoll um, dass die Kühlbox gegen ihr Bein schlug, und marschierte los - geradewegs in einen Kuhfladen. Sie merkte es nicht einmal. Julia und Michael schauten ihr nach, und es war, als bliebe für einen Moment die Zeit stehen.

Dann lachte Julia erstickt auf und sagte: »Michael?«

Aber er schaute sie nicht an. Wie oft hatte er um ihre volle Aufmerksamkeit gebettelt, und jetzt, da er sie hatte, wollte er sie nicht. Trotz der Nachmittagssonne fror Julia plötzlich.

»Ich lasse dir das Zelt für heute Nacht da«, erklärte ihr Sohn mit seltsam toter Stimme. »Ich schicke dann morgen jemanden, der es abholt.«

Ohne ein weiteres Wort folgte er seiner Frau.

Niemand hatte Adam gesehen.

»Was sollte er denn hier oben?«, fragte Martine bissig. »Ich habe ihn doch aus der Gruppe geschmissen.«

Sie wirkte ein wenig demoralisiert. Abgesehen von dem Familiendrama, das ihre Protestaktion empfindlich gestört hatte, waren sie offenbar - was für eine Beleidigung! - so ungefährlich, dass die Sicherheitsleute sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie des Platzes zu verweisen.

»Danke.« Grace machte sich auf den Weg in Richtung Bühne. Von Minute zu Minute wurde die Menschenmenge größer. Sie sollte ihr Vorhaben vergessen. In diesem Gewühl würde sie ihn nie finden.

»Hallo, Nick, hast du Adam gesehen?«

Nick saß allein im Gras und starrte, die langen, schlaksigen Arme um die Knie geschlungen, zur Bühne.

»Hä? Nein.«

»Bist du sicher? Er muss hier vorbeigekommen sein.« Sie hatte ein ungutes Gefühl. Adam war so seltsam gewesen. So wild entschlossen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er tun würde, und das beunruhigte sie.

»Ich habe ihn nicht gesehen, okay?« Nicks Aussprache war leicht verwaschen.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie.

»Klar.« Plötzlich rollten Tränen.

»So‘ne Scheiße!« Grace vergaß Adam und ließ sich neben ihrem Bruder nieder. »Was ist denn los, Nick?«

»Hör dir das an!«, schluchzte er. »Hör dir die Musik an!«

Grace tat es. Niemand sang. Stattdessen schien das Instrument des Bassgitarristen vom Teufel besessen zu sein: Alles, was es von sich gab, war ein erbarmungsloses woarrwoa rr-woa rr-n ih-n ih-n iiiiih.

»Es ist so schön!«, heulte Nick. Er fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Das könnten wir sein da oben auf der Bühne, Grace! Die Steel Warriors. Wir würden den Leuten einheizen! Derek total ausgeflippt, Vinnie in seiner Weste aus Paketschnüren ... Es wäre ohrenbetäubend, wir würden schwitzen wie die Schweine, und junge Mädchen würden uns ihre Unterwäsche zuwerfen!«

»Das ist nie passiert«, erinnerte Grace ihn. »Nein«, gab er zu. »Aber wir lebten immer in der Hoffnung.«

Sie drückte seinen Arm. »Du könntest wieder anfangen, Nick.«

»Nein.«

»Wieso denn nicht? Jetzt, wo du nicht beim Grand Prix mitmachen wirst, kannst du doch deinen Träumen nachgehen.«

Er murmelte etwas Unverständliches.

Grace schaute ihn misstrauisch an. »Du hast es ihr nicht gesagt, stimmt‘s?«

»Was?«, spielte er den Ahnungslosen.

»Dass du nicht beim Grand Prix mitmachen willst, Nick.«

Er ließ sich nach hinten ins Gras fallen und schaute verdrießlich zu ihr auf. »Charlie kann sich unheimlich in Sachen reinknien, weißt du. Das war mir nicht klar, aber jetzt begreife ich es allmählich.«

»Umso dringender ist es, dass du ihr reinen Wein einschenkst. Sonst macht sie sich doch immer größere Hoffnungen.«

»Ich weiß, okay?«

»Wie weit ist die Sache denn gediehen? Du bist doch noch nicht aufgestellt, oder?«

Nick lachte schnaubend. »Großer Gott, nein! Nein. Ich habe erst ein paar Zeilen entworfen, und Charlie bastelt an dem Drumherum. Und wir haben mit ein paar Backgroundsängern geredet... nichts Ernstes.« Sie wusste es jedes Mal, wenn er log. Und jetzt log er.

»Nick!«

»Okay, okay! Der Song heißt ›Schmeicheleien‹, mein Outfit ist grün und schwarz und mein erster Fernsehauftritt im November. Alles klar? Bitte erzähl es niemandem!«, flehte er.

»Du meine Güte.« Charlie war weiß Gott nicht untätig gewesen in der vergangenen Woche.

»Nicht einmal Ewan. Und versprich mir, dass du es dir nicht ansehen wirst.«

»Aber...«

»Versprich es!«

»Okay, ich verspreche es.«

Jetzt, da er sich das von der Seele geredet hatte, wirkte er ein wenig munterer. »Die EastEnders laufen gleichzeitig auf einem anderen Kanal«, sagte er. »Also wird wahrscheinlich keiner mitkriegen, dass ich es wirklich und wahrhaftig getan habe.«

»Aber du wirst es wissen.«

»Was?«

»Es ist offensichtlich, dass du das eigentlich nicht willst, Nick. Sieh dich doch an, um Himmels willen: Du würdest am liebsten da unten auf der Bühne mitmischen. Deine Liebe gehört der Rockmusik.«

»Manchmal müssen wir eben Dinge tun, die wir eigentlich nicht tun wollen«, erwiderte er tapfer. »Und das Kostüm ist gar nicht mal so übel. Sie hat sich zu guter Letzt immerhin gegen die Pailletten entschieden, weil sie sie zu altmodisch findet. In dem Punkt bin ich absolut ihrer Meinung.«

»Nick...«

»Was immer du auch an ihr zu meckern hast - sie hat einen guten Geschäftssinn«, setzte er trotzig hinzu. Grace konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas über sie gesagt zu haben.

»Außerdem ist alles deine Schuld«, machte er eine atemberaubende Spitzkehre.

»Wovon sprichst du?«

»Davon, dass du ihr geraten hast, ins Management zu gehen. Und ich muss das jetzt ausbaden.«

»Wäre es dir lieber, sie würde wieder in diesen Klubs tanzen?«

»Nein. Allerdings tanzt sie immer noch manchmal ...« Er verlor sich in einer Träumerei, die Grace zu intim erschien, als dass sie ihm dorthin hätte folgen wollen.

»Grace!«

Ewan kam, den Arm schützend um Amanda gelegt, den Hang herunter. Ihr Gesicht war fleckig vom Weinen und ihre Nase rot und geschwollen. »G-G-Grace«, schluchzte sie.

»Stecken Sie mich bloß nicht an«, schniefte Nick.

Ewan bedachte Grace mit einem feindseligen Blick. »Vielen Dank, dass du dich aus dem Staub gemacht hast.«

»Entschuldige - aber ich hatte etwas zu tun.«

»Und was genau hattest du zu tun?«

Amanda wurde neuerlich von Schluchzen geschüttelt, und Grace überging Ewans Frage und legte den Arm um das Mädchen. »Na, na.«

»Er war nicht bereit, mit mir zu reden. Was soll ich jetzt machen?«

Grace wollte sie neben Nick auf den Boden drücken. »Setzen Sie sich doch erst mal und atmen Sie tief durch.«

»Bevormunden Sie mich nicht!«, fuhr Amanda sie an.

Sie schüttelte Graces Hände von ihren Schultern und lief davon.

Ewan schaute ihr mitfühlend nach. »Armes Mädchen. Sie hat einen schrecklichen Schock erlitten.«

»Hat sie nicht. Ich möchte nicht grausam erscheinen, aber sie wusste schon, bevor sie herkam, dass es zwischen ihnen aus ist.«

Ewan musterte sie prüfend. »Du weißt offenbar gut Bescheid über ihre Beziehung.«

»Nicht wirklich.«

»Wie kommt es, dass du dich so dafür interessierst?«

»Ich? Ich interessiere mich nicht die Bohne dafür!«

»Du scheinst auch Adam sehr gut zu kennen.«

»Wir haben einen Monat unter demselben Dach gewohnt, Ewan - da lernt man jemanden zwangsläufig kennen.« Diese Aussage war strittig. Sie und Ewan hatten über ein Jahrzehnt unter demselben Dach gewohnt, und er hatte so gut wie keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging. »Weißt du, was? Adam ist für dieses Gespräch nicht von Belang.«

Sie versuchte nicht, sich aus der Affäre zu ziehen - aber auf ihr Intermezzo einzugehen, würde die Dinge nur unnötig komplizieren.

»Würdest du mir bitte sagen, worum es bei diesem Gespräch geht? Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer.«

»Um uns«, verkündete sie.

Es hatte schon den ganzen Tag herumgewabert. Eigentlich schon den ganzen Monat. Genau betrachtet schon ein paar Jahre.

»Ich glaube nicht, dass ein Rockfestival der richtige Rahmen für eine solche Grundsatzdiskussion ist«, erwidert Ewan.

»Wir können auch nach Hause fahren und dort reden. Meine Meinung wird sich dadurch allerdings nicht ändern.«

»Und was ist deine Meinung?«, fragte er zornig. »Dass unsere Ehe dir nicht mehr passt?«

»Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir waren, als wir uns vor fünfzehn Jahren kennen lernten, Ewan.«

»Da hast du Recht. Wir sind ein Ehepaar, das eine Verpflichtung zueinander eingegangen ist. Und wir sind Eltern zehnjähriger Zwillinge.«

Damit hatte er Recht - aber sie war wütend auf ihn, weil er sich nicht schämte, zu emotionaler Erpressung zu greifen. »Ja, Ewan. Zehnjähriger Zwillinge, die das Recht haben, mehr zu erwarten, als sie im Moment bekommen. Und wir haben das Recht, mehr voneinander zu erwarten.«

»Na so was!«, rief er höhnisch. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dich der Familie zuliebe von mir trennen willst! Das hättest du mir sagen sollen.«

Sie seufzte. »Hör auf. Ich weiß, dass es nicht einfach wird. Ich weiß, dass es nicht ohne Herzweh abgehen wird. Und wenn es eine andere Möglichkeit gäbe ... aber es gibt keine. Nicht für mich.«

Ihre Worte fegten wie ein eisiger Windstoß durch ihr Ehehaus. Die Umstehenden erhofften sich eine unterhaltsame Eskalation, aber Grace und Ewan standen sich wie erstarrt gegenüber, äußerlich zu weit voneinander entfernt, um den Eindruck eines Paares zu vermitteln, und doch durch unsichtbare Bande verbunden.

Schließlich sagte Ewan: »Ich möchte dir nichts unterstellen, Grace, aber falls ... falls in meiner Abwesenheit etwas ... etwas geschehen ist...« Er holte tief Luft. »Falls du wogen eines anderen Mannes so durcheinander bist, wäre ich dir nicht böse. Ich würde mich bemühen, es zu begreifen. So etwas kann jedem passieren. Man bildet sich ein, etwas Besseres gefunden zu haben, und dabei ist es nur ein Strohfeuer, und dann kommt man wieder zur Vernunft und kehrt zu seiner Familie zurück, wo man hingehört. Ja, ich könnte es verstehen, wenn es dir so ergangen wäre, Grace. Ich könnte dir vergeben.«

Wenn sie ihm jetzt die Wahrheit über sich und Adam erzählte, würde er ihr nicht glauben, dass sie in ihrer Ehe unglücklich war. Er würde denken, ein junger Hengst habe ihr den Kopf verdreht und er müsse ihr nur wieder zurechtgesetzt werden.

Er wartete. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aufrichtig sein und seine »Vergebung« ertragen? Oder den Mund halten und fliehen, solange sie noch die Möglichkeit hatte?

Um sie herum wurde ein Raunen laut. »Schaut mal! Schaut mal!«

Alle zeigten zur Bühne, und in dem Moment, als Grace sich umdrehte, gingen dort alle Lichter aus und die Musik verstummte abrupt. Es war, als habe jemand den Hauptstecker herausgezogen.

Die Musiker standen mit ihren stummen Instrumenten linkisch da und schauten ratlos herum. Der Leadsänger wandte sich der Kulisse zu und sagte etwas. Man konnte es auf die Entfernung nicht verstehen, doch es war sicherlich nichts Freundliches.

Plötzlich kam eine in ein MOX-Transparent gehüllte Gestalt aus der Kulisse gestürmt, entriss dem erschrockenen Sänger das Mikrofon und schubste ihn beiseite.

»Adam!«, schrie Martine von oben. Grace kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ja, es war tatsächlich Adam. »Was hat er vor?«, fragte Ewan.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie. ›Wir reden späten, hatte er vorhin gesagt. Wollte er Ewan, ihren Freunden und ihren Kindern vielleicht via Mikrofon mitteilen, dass sie eine Affäre gehabt hatten? Nein - er würde bestimmt nicht so grausam sein, ihnen derart wehzutun, nur um sich an ihr zu rächen. Oder?

Plötzlich ging das Licht auf der Bühne wieder an. »Entschuldigt die Unterbrechung, Leute!«, brüllte Adam in das ebenfalls zum Leben erwachte Mikrofon. »Aber ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen!«

Grace hatte das Gefühl, als sehe er sie an. War es möglich, dass er sie unter diesen tausenden von Menschen ausgemacht hatte? Wie gebannt stand sie da, als er sich mit dem Mikrofon vorbeugte ...

»Es ist eine Ladung Kernbrennstoff aus Japan unterwegs, und wir müssen den Transport aufhalten! Wir müssen tun, was immer wir können - wir alle!« Aus Martines Truppe erschollen vereinzelte Jubelrufe. »Hört auf! Hört auf!«, schrie Martine wütend. »Er hat kein Interesse an einem friedlichen Protest! Wir müssen uns von ihm distanzieren!«

Doch sie wurde von dem erneut aufbrandenden Sprechgesang »No MOX! No MOX!« übertönt. Er breitete sich wie ein Lauffeuer aus, bis hunderte klatschten und in den Singsang einstimmten, und schließlich tausende.

»No MOX! No MOX!«, brüllte Adam ins Mikrofon, um die Stimmung noch mehr anzuheizen. Das war sein Ding, erkannte Grace. Er war der geborene Revolutionsführer. Und dann merkte sie auf einmal, dass sie ebenfalls klatschte und schrie.

Plötzlich verschaffte er sich mit gebieterisch erhobenen Händen Ruhe und rief: »Ich habe noch etwas zu sagen!« Grace schluckte trocken. Verstohlen schaute sie zu Ewan hinüber. Sein Blick war auf die Bühne gerichtet. Als sie ihn jetzt mit dem Wissen anschaute, dass es aus war zwischen ihnen, empfand sie eine Mischung aus Trauer über den Verlust und - Erleichterung.

»Ich möchte noch sagen ...«, begann Adam auf der Bühne, und dann schritten endlich Sicherheitsleute ein. Vier riesige Kerle stampften aus der Kulisse. Die Menge buhte sie aus, als sie sich Adam griffen. Doch sie konnten ihm das Mikro nicht entwinden, und es gelang ihm sogar, es noch einmal an den Mund zu heben. »Ich möchte noch sagen ...«

»Schafft ihn weg, um Himmels willen!«, schrie Martine. »Schafft ihn weg!«

Aber sie war ziemlich allein mit ihrer Meinung. Der Großteil der Massen stand wie ein Mann hinter ihm, und sie kreischten »NO MOX! NO MOX!« und - man sollte es nicht für möglich halten - er schaffte es noch einmal, ans Mikrofon zu kommen, wobei er in der Rangelei zwei Verstärker umstieß.

»Ich möchte noch ...«, brüllte er wieder.

In diesem Moment wurde ihm das Mikrofon entrissen, jedoch nicht von einem der unfähigen Sicherheitsleute.

Amanda war auf der Bühne erschienen, winzig und grimmig entschlossen, und sie schrie mit erstaunlich kräftiger Stimme ins Mikrofon, dass es die Fünfzigtausend hören konnten und die Rockgruppe und Ewan und Grace und Adam: »Ich bin schwanger!«